Zu Besuch in Val Calanca
Ein neues (altes) Auto war angeschafft, das Bett darin schon eingebaut und meine Freundin Lisa und ich hatten vor einigen Tagen beschlossen, einen spontanen Bouldertrip zu unternehmen. Unklar war nur, wohin die Reise gehen sollte, denn überall in Europa, angefangen von der Fränkischen, über den Schwarzwald, Pfalz, Österreich und der Schweiz, war das Wetter in den anstehenden Tagen so mies wie selten gemeldet. Ausnahme: Sonne in Italien – und der italienischen Schweiz. So kam mir das nicht so bekannte, aber irgendwie doch schon einmal gehörte, „Val Calanca“ in den Sinn, ein Bouldergebiet etwas nördlich von Bellinzona gelegen. Von der Wetterfront durch den San Bernardino geschützt, liegen die Bouldergebiete zwischen 600 und 2300m, was neben den versprochenen Sonnenschein auch ein angenehmes Boulderklima im Sommer erahnen ließ. Zudem kamen die große Menge leichterer Probleme im 5. und 6. Grad Lisa und auch mir sehr entgegen, um mich nach mehrwöchiger Verletzungspause wieder an den Fels „heranzutasten“.
Taschen und Auto wurden also vollgeladen, im Kollektiv schnell noch Chalk-, Pad- und Tapebestände erweitert und gegen 16 Uhr ging es auf der stark frequentierten – und leider voll gesperrten – Autobahn Richtung Schweiz. Bedingt durch die lange Fahrt beschlossen wir am Abend einen Zwischenstopp im Magic Wood einzulegen, um mit Freunden zu feiern, den Boulderführer für das Calanca Tal zu besorgen und uns von dem, für Bahnfahrer ungewohnten, Autostress zu erholen.
Day 1. Um 14 Uhr sind wir am Ende einer schmalen, sich die Höhen herauf windenden Straße angekommen und haben offensichtlich den Parkplatz des Bouldergebietes Pianon erreicht, dem am höchsten gelegenen Gebiet mit Sektoren zwischen 2000 und 2300m über dem Meeresspiegel. Voller Euphorie auf das neue Gebiet stiefelten wir also los – laut Führer immer den gekennzeichneten Wanderweg entlang. Vier Stunden, 3 Liter Wasser, 15 Äpfel und 2 Tafeln Schokolade später kamen wir nach gefühlten (und realistischen) 1200 Höhenmetern erfolglos, ohne einen Griff angelangt zu haben, zurück zum Auto. So hatten wir uns den Tag auf jeden Fall nicht vorgestellt gehabt. Irgendetwas stimmte nicht – der Führer oder unsere Intuition & Navigation. Nach der Fahrt talabwärts unter etwas gedrückter Stimmung stellte sich heraus, dass letzteres die Ursache sein sollte. Nach nur einigen hundert Metern Fahrt tat sich vor uns ein weiterer Parkplatz, oder besser gesagt ein kleine Straßenbucht, auf. Den Tag zuvor höchstwahrscheinlich aufgrund der Ungeduld endlich Fels anzufassen übersehen, war schnell klar, dass dies der richtige sein musste! Also wieder das Auto abgestellt, Nachtlager aufgebaut und eine Flasche guten Wein aufgemacht, denn am nächsten Tag sollte es dann endlich losgehen.
Day 2. Herrliches Wetter, gutes Frühstück und ein den Weg entlangkommender barfüßiger Schweizer mit zwei zerfledderten Crashpads (später stellte sich heraus, dass es sich dabei um Michele Bionda, Führerautor und Miterschließer der Gebiete handelte) ließen uns schon morgens Gutes erahnen. Schnell tranken wir den Espresso aus, packten erneut, diesmal noch mehr Schokolade, und nahmen den mit roten Punkten markierten Weg Richtung Felsen. Der steile, einstündige Marsch führte uns an einem Bach entlang in einen wunderschönen Kiefernwald, dessen Boden mit Heidelbeeren und duftenden Sträuchern bedeckt war. Schon allein dafür war es die Anreise wert. Wirklich beeindruckt waren wir dann aber von der Landschaft über der Baumgrenze: saftig-grüne Almweiden und riesige Blöcken aus bestem Granit. Die Finger fingen sofort das schwitzen an… Crashpads abgelegt, trockene, lange Sachen angezogen (unvermeidbar nach dem Aufstieg und dem eisigen Lüftchen) und los ging es. Wir arbeiteten uns durch alle Sektoren des Gebietes, gingen wie die Bleausards von Block zu Block ohne die Schuhe auszuziehen und „saugten“ die Linien geradezu ein. So gelangen mir bereits am ersten Tag etwa 30 Boulder zwischen dem 5. und dem 7. Bouldergrad. Mit dabei die eindrucksvolle, ca. 7m hohe Linie „Hidraulic arm“,7b, und der Boulder „Aragnae“, 7b, im Flash. Auch Lisa hatte am Ende des Tages eine anständige Ticklist vorzuweisen. Nicht zuletzt wegen Michele. Sie hatte sein Handy gefunden und so kamen wir ins Gespräch. Er führte uns an schöne, unbekannte Linien und an abgefahrene 10m Platten im 3. und 4. Bouldergrad. Ich konnte im Laufe des Tages noch die beeindruckende Line „il signore oscuro“, 7c+, ausbouldern, war nach all der Boulderei allerdings zu platt für den Durchstieg. Die Beine wollten zudem so langsam auch nicht mehr☺. Aus mangelndem Wissen über Michele (ich habe ihn erst am Abend auf einem Bild in meinem Führer erkannt) klagte ich ihm beim Rückweg noch etwas über den Führer und die schlechte Wegbeschreibung des Parkplatzes…
„Ragomitolo“, fb4+
links: „Hydraulic Arm“, fb7B
rechts: „Mr. Fanrastic“, fb7B
Day 3. An unserem letzten Tag beschlossen wir dann in das Gebiet Selma zu wechseln. Es liegt etwas tiefer an einem Fluss und ist in nur 10 Minuten gemütlichen Fußmarsch zu erreichen. Dort erwartete uns beste Boulderei im gepflegten Magic Wood Stil – nur bei Weitem nicht so überlaufen, denn wir waren an diesem Tag die einzigen dort. Wieder zurück am Auto kochten wir uns noch einen Kaffee und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Plötzlich stoppte ein Fahrzeug neben uns – es war Michele. Er begrüßte uns herzlichst und forderte uns auf, mal mit an seinen Kofferraum zu kommen. Wir staunten nicht schlecht als er uns das neue, riesige und wunderschöne Holzschild mit der Aufschrift „Boulderarea Pianon“ zeigte, welches er noch am selben Tag an der „Schlüsselstelle“ – dem Parkplatz – aufstellen wollte. Er bedankte sich sogar noch bei uns dafür, dass wir Ihn über die Unklarheit der Wegbeschreibung aufmerksam gemacht haben, denn die Schotterstraße, auf welcher sich die Parkbucht befindet, wurde seit Herausgabe des Führers immer weiter betoniert, wodurch die Streckenangabe von „2 km Strada sterrata“ nicht mehr stimmte.
So verabschiedeten wir uns an diesem Abend mit positiven Eindrücken von Michele und dem Val Calanca mit der festen Entschlossenheit, nicht das Letzte mal dort gewesen zu sein. Denn wie immer in relativ neuen Gebieten gibt es noch viel zu sehen, viele offene Projekte und Unmengen ungeputzter, offener Linien mit gewaltigem Potenzial. Eben genau das Richtige für Boulderer mit Entdeckungslust.
„Snoopy“, fb6B